Die desinformierte Gesellschaft: Ist Medienkunde die beste Prävention?

13 Okt

Pressemeldung der Firma Institut für Demographie, Allgemeinwohl und Familie e.V.

Ein weiterer, vielfach wiederholter Vorschlag zur Bekämpfung von Desinformation leuchtet unmittelbar ein – ja er ist so sehr common sense, dass er auf lokaler wie transnationaler Ebene Zustimmung findet. »Berlin braucht mehr digitale Bildung«, hieß es in einer Headline des Tagesspiegel (23.3.2017), und selbst das eher schwerfällige EU-Parlament ist in einer Resolution bereits auf den fahrenden Zug aufgesprungen (European Parliament 2016). Sie zeigt indes ebenso wie weitere vergleichbare politische Vorstöße bei näherer Betrachtung nur, wie hilflos wir derzeit noch sind.

Publizist Milsocz Matuschek forderte in der Neuen Zürcher Zeitung ebenfalls mehr »Bullshiterkennungskompetenz«. Dazu gehören Versuche, Nutzern online beizubringen, welche Fragen sie zur Überprüfungsrecherche an Nachrichten zu stellen hätten. Dabei wissen wir andererseits inzwischen, dass selbst für Profi-Journalisten genau diese Prüfkompetenz immer mehr zur Herausforderung wird. Der Crash-Kurs zum Nulltarif – bei solchen Aufklärungs- und Bildungsangeboten ist zumindest Vorsicht geboten. Sie könnten schon deshalb ihre Tücken haben, weil derjenige, der sie nutzt und verinnerlicht, womöglich glaubt, von nun an im Desinformations-Dschungel auf eigene Faust klar zu kommen und sich elegant wie Tarzan an allen Gefahrenquellen vorbei von Liane zu Liane schwingen zu können.

Zurecht wird dagegen mehr Medienkunde an Schulen gefordert. Nur braucht das absehbar Jahre, weil erst einmal den Lehrern beizubringen wäre, was selbst hochspezialisierte Medienforscher sich an gesichertem Basiswissen nur noch mühselig und partiell anzueignen vermögen. Denn auch sie hecheln beim Versuch, sich auf dem Laufenden zu halten, den überbordenden Innovationen im Netz und den zahlreichen einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen hinterher. Das rasante Veränderungstempo reduziert ständig die Halbwertszeit von Kenntnissen und Erkenntnissen im Umgang mit digitalen Medien.

Nachrichtenkompetenz an Schulen: Fehlanzeige

Wem diese erste Einschätzung zu flapsig und pauschal ist, der sei auf eine Studie der Dresdener Kommunikationswissenschafler Lutz M. Hagen, Rebecca Renatus und Anja Obermüller verwiesen. Im Auftrag der Stiftervereinigung der Presse ermittelten die Forscher, wie es um die ›Nachrichtenkompetenz an Schulen‹ bestellt ist. Sie förderten Erschreckendes zutage, aber ihre Studie belegt auch, wie vielschichtig und absehbar zeitraubend es in einem föderalistischen System zugeht, um überhaupt Veränderungen auf den Weg zu bringen. Die Forscher sind in mehreren Schritten vorgegangen. Sie fokussierten ihre Analyse spezifisch auf Nachrichtenkompetenz, nicht allgemein auf Medienkompetenz. Sie wollten wissen, wie es um die Kompetenzvermittlung des Schulsystems und um die Vermittlungskompetenz der Lehrer in Bezug auf Nachrichtenjournalismus bestellt ist, und nicht generell im Blick auf alle möglichen Medien- und Unterhaltungsangebote. Fehlanzeige ergab bereits eine erste Dokumentenanalyse auf der obersten Ebene, der Kultusministerkonferenz (KMK). Sie ist in unserem föderalistischen Gemeinwesen dafür zuständig, ein Minimum an Vereinheitlichung der Lehrangebote durchzusetzen. Medienkompetenz sei zwar als Zielvorgabe in den Papieren der KMK »umfassend verankert«, aber die Förderung von Nachrichtenkompetenz spiele dabei »nur eine untergeordnete Rolle« (Hagen et al. 2017: 28). Immerhin wurde 2016 nach Abschluss der Dresdener Feldstudie in einem Strategiepapier der KMK die Digitalisierung zur »größten gesellschaftlichen Herausforderung unserer Zeit« erklärt. Aber auch dieses Memorandum fokussierte weitgehend auf den vermehrten Einsatz digitaler Technologie im Unterricht, statt auf die Vermittlung von mehr Kompetenz im Umgang mit Nachrichten und Fake News.

Zu ganz ähnlichen Ergebnissen kam eine zweite Teilstudie der Dresdener Forscher, welche Dokumente zur Lehrerbildung unter die Lupe nahm. Sodann analysierten die Wissenschaftler insgesamt 207 Lehrpläne für den Deutsch-, Sozialkunde-, Ethik- und Geschichtsunterricht genauer. Sie fanden dort nur wenige Vorgaben im Blick auf Nachrichtenkompetenz: Vergleichsweise stark thematisiert wird das Thema in drei Bundesländern, in Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und Saarland – und zwar in mehr als der Hälfte der Lehrpläne. Schlusslichter sind dagegen Bayern, Bremen und Baden Württemberg, wo nicht einmal ein Drittel der Unterrichtsvorgaben das Thema Nachrichten/Nachrichtenmedien aufgreifen. Das ist in den Augen der Forscher auch deshalb ein spannendes Ergebnis, weil sich das Ranking »weder durch die politische Couleur der Landesregierungen noch durch die Größe der Bundesländer erklären« lässt (Hagen et al. 2017: 33; vgl. Abb. 20).

Spannend und verstörend ist, dass den Wissenschaftlern zufolge nur drei Prozent der Lehrpläne Aussagen zu den sozialen Netzwerken enthalten: Facebook und Twitter sind also als Nachrichtenmedien in den Unterrichtsvorgaben derzeit noch inexistent. Wir wissen aber, dass sich ein großer und von Jahr zu Jahr steigender Anteil der Schüler genau dort mit Nachrichten versorgt (Hagen et al. 2017: 38).

Ziemlich trostlos sieht es auch bei den 361 Schulbüchern aus, welche die Forscher untersuchten. Sie mussten sich hierbei auf drei Bundesländer eschränken – je ein Flächenstaat in Ost- und Westdeutschland sowie ein Stadtstaat (Nordrhein-Westfalen, Sachsen und Berlin). Nur die Hälfte von ihnen widmet der Nachrichtenkompetenz Aufmerksamkeit – und wenn das Thema angeschnitten wird, geht es meist nur um einzelne Nachrichteninhalte, nicht aber darum, ein Grundverständnis des Mediensystems und des Journalismus zu entwickeln und etwa den Schülern die öffentliche Aufgabe der Presse nahezubringen.

Für alle, die sich noch aus ihrer eigenen Schulzeit an engagierte Lehrerinnen und Lehrer erinnern, die es mit Lehrplan-Vorgaben und Schulbürokratie nicht so ernst nahmen und stattdessen in Eigenregie das unterrichteten, was sie ihren Zöglingen an Politik- und Medienverständnis mit auf den Weg geben wollten, bleibt allerdings ein Hoffnungsschimmer. Die Dresdner Forscher befragten – im Wesentlichen an ihrer eigenen Universität – insgesamt 83 Lehramtsstudenten, die kurz vor dem Studienabschluss standen. Sie stuften nahezu ausnahmslos Nachrichtenkompetenz als Lernziel und Thema des Schulunterrichts als sehr wichtig ein. Solch hohe Motivation nützt allerdings wenig, wenn die Absolventen nicht selbst über das nötige Wissen verfügen. Die Forscher fühlten ihnen auf den Zahn und fanden heraus, dass sie das Mediennutzungsverhalten von Schülern völlig falsch einschätzten. Ebenso waren sie erstaunlich ahnungslos, als sie nach den Aufgaben von Journalisten oder nach der Rolle von Nachrichtenmedien in der Demokratie gefragt wurden oder Profi-Journalisten von Bloggern und ›Bürgerjournalisten‹ abgrenzen sollten. Das seien, so Hagen, »blinde Flecken«.

Wie Google die Schulsysteme infiltriert

Doch selbst wenn die Lehrkräfte überdurchschnittlich über Journalismus und Digitalisierung, über alte und neue und über soziale Medien Bescheid wüssten, wären noch gravierende Alltags-Probleme beim Versuch zu bewältigen, mehr Media literacy zu lehren. Danah Boyd, die für Microsoft im Grenzbereich zwischen Technologie und Gesellschaft forscht, hat die Herausforderung besonders anschaulich beschrieben: Zu oft sei Teenagern beispielsweise beigebracht worden, Wikipedia sei keine glaubwürdige Quelle – sie sollten stattdessen recherchieren. Im Ergebnis habe das dann dazu geführt, dass die Teenies zu Google wechselten und dann dort den jeweils erstbesten Link nutzten, den ihnen die Suchmaschine lieferte (Boyd 2017).

Summa summarum halten die Dresdener Forscher fest, Kritik an der »vermeintlichen Lügenpresse« beruhe oftmals »auf vollkommen falschen Vorstellungen von der Arbeitsweise des Journalismus«. Auch deshalb würden »Fake News hoffähig«. Während die Bildungspolitiker und Ministerialbürokraten, die diversen Instanzen der Lehrerausbildung sowie die jetzigen und künftigen Lehrer also ihre liebe Mühe mit der digitalen Disruption haben, hat zumindest Google längst dies als Chance erkannt und ist dabei, in Sieben-Meilen-Stiefeln das amerikanische Schulsystem zu erobern und zu ›googlifizieren‹: In nur wenigen Jahren pflasterte Google die Schulen mit seinen Produkten, darunter billige Laptops, Gratis-Apps und Unterrichtsmaterial, regelrecht zu und bootete damit auch Wettbewerber wie Apple oder Microsoft aus – offenbar ohne dies mit der Schulbürokratie und den Bildungspolitikern hinreichend abzustimmen (Singer 2017).

Projekte wie ›Zeitung in der Schule‹, mit denen bei uns die traditionelle Medienindustrie Kinder an Nachrichtenkonsum und an den Journalismus heranführen wollte, sehen dagegen ziemlich alt aus. Natasha Singer, Technologie-Reporterin der New York Times, ist überzeugt, dass Google mit seiner Marketing-Offensive auch einen »Wandel in der Philosophie des öffentlichen Schulwesens« herbeizuführen sucht. Priorität habe es für den Konzern, Kindern Fertigkeiten wie Teamarbeit und Problemlösen beizubringen, während herkömmliche Bildung, zum Beispiel das Verständnis von Mathe-Formeln, eine untergeordnete Rolle spielten. Google und die IT-Industrie nähmen somit auf eine Debatte Einfluss, welche das US-Bildungswesen über ein Jahrhundert hinweg geprägt habe: ob der Zweck des öffentlichen Schulwesens darin bestehe, wissende Bürger oder brauchbare Arbeitskräfte hervorzubringen (ebd.).

Wir sollten unter den skizzierten Bedingungen unsere Erwartungen an die Medienkompetenz-Vermittlung von Schulen, aber auch an politische Regulierung nicht allzu hoch schrauben. Das Dilemma der Politik hat Stefan Plöchinger zutreffend beschrieben: Im Bundestagswahljahr 2017 würde sich leider »kaum ein Politiker einer solch komplexen Zukunftsfrage stellen« – und auch danach wagten sich absehbar nur wenige an sie heran, »weil man damit schnell unmodern wirkt« (Plöchinger 2017: 21). Erinnert sei an Angela Merkel, die zwar in der Sache recht hatte, als sie das Internet als »Neuland für uns alle« bezeichnete, aber dafür dennoch von der Netzgemeinde mit einem Shitstorm bedacht wurde. Oder eben an Justizminister Heiko Maas, der mit seinen Regulierungsvorschlägen regelmäßig Spott erntet. Wobei auch früher schon Politiker, die den Mut hatten, sich mit Medienkonzernen anzulegen, meist den Kürzeren zogen – etwa Oskar Lafontaine, als er noch saarländischer Ministerpräsident war und lediglich das Gegendarstellungsrecht ein klein wenig zugunsten der Opfer von Medienberichterstattung verändern wollte. Die Gefahr ist groß, dass im hochsensiblen Bereich von Presse- und Meinungsfreiheit der Staat übersteuert, wenn er Einfluss zu nehmen versucht.



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